Der verschwundene Papyrus

 

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Die wichtigsten Personen

Henti und Sherit (10):
Zwillinge, Töchter
des Schreibers
Ramose

Merimose (11):
Sohn des
Malers
Amunnacht

Imhotep (10):
Sohn des
Schreibers
Hori

Ein wenig aus dem ersten Kapitel
(Eigentlich war es ein ganz normaler Tag ...):

Henti und Sherit schlichen das letzte Stück der engen Straße hinunter. Am Nordtor spähten sie um die Ecke. Da stand er! Horimin, der Torwächter. Klein und rundlich lehnte er im Schatten der Mauer draußen vor dem Tor und döste in der Nachmittagshitze vor sich hin. Bis auf den langen Dolch an seiner Seite sah er eigentlich ganz harmlos aus.
"Jetzt!", flüsterte Henti und stieß ihre Zwillingsschwester mit dem Ellbogen an. Dann lief sie leise wie eine Katze direkt vor Horimin, fuchtelte mit den Armen und rief: "Wach auf!"
Wie erwartet sprang Horimin vor Schreck in die Luft und hatte sofort die Hand an seinem Dolch. Aber da erkannte er Henti, die sich vor Lachen bog. Bei jedem anderen wäre er explodiert und hätte eines seiner berühmten Donnerwetter losgelassen. So aber grinste er nur etwas schief, blickte sich suchend um und fragte: "Und wo ist Sherit?"
Die beiden Schwestern traten immer gemeinsam auf. Das wusste er. Und wie immer wunderte er sich darüber, wie zwei Menschen so genau gleich aussehen konnten. Eigentlich fürchtete er sich sogar vor Zwillingen. Wie alle anderen glaubte auch Horimin, dass sie etwas Magisches an sich hatten. Aber hier im Dorf hatte sich jeder seit ihrer Geburt vor zehn Jahren an sie gewöhnt. Und Horimin wusste immerhin, woran er sie unterscheiden konnte: an ihren Jugendlocken.
Henti war eine halbe Stunde älter als ihre Schwester. Deshalb hatten Hunero und Ramose ihre Töchter Henti, die Erstgeborene, und Sherit, die Kleine, genannt. Aber um sie zu unterscheiden, reichte das nicht aus. Sie trugen bequeme weiße Kleider und hatten wie alle ägyptischen Kinder kahle Köpfe, nur über einem Ohr hing ein geflochtener Zopf, die Jugendlocke. Irgendwann hatte ihre Mutter Hunero beschlossen, dass man sie an diesen Jugendlocken erkennen sollte, und hatte ihnen Glücksbringer daran gebunden: für Henti kleine Fische, die sie vor dem Ertrinken im Nil schützen sollten, und für Sherit türkisfarbene Perlen gegen den bösen Blick. Seitdem konnte auch Horimin die Zwillinge auseinanderhalten.
"Hier bin ich", sagte Sherit. Sie trug einen Korb mit Feigen, einem Fladen Brot und einem kleinen Krug Bier.
"Geht ihr wieder zum Grabmal eures Großvaters?", fragte der Torwächter.
"Aber Horimin!", sagte Henti vorwurfsvoll. "Das tun wir doch fast jeden Tag!"
"Ja, richtig. Und Neferhotep wäre stolz auf euch!"
"Er weiß es", sagte Sherit überzeugt. "Seine Seele weiß es. Sein Ka. Wir versorgen ihn gut. Kommst du?", rief sie ihrer Schwester über die Schulter zu. "Bis später, Horimin!"
"Ja, sofort", rief Henti zurück. "Ich hab nur Ib eingefangen!"
Ib war das Äffchen der Zwillinge, das sie überallhin mitnahmen. Großvater Neferhotep hatte vor drei Jahren ihren Herzenswunsch erfüllt und ihnen endlich ein Äffchen geschenkt. "Ib", hatte Henti nach langen Diskussionen gesagt. "Das ist der beste Name, denn es heißt Herz."
Und Sherit war sofort davon überzeugt gewesen. Als sie Ib nämlich mit seinem neuen Namen gerufen hatte, war er ihr um den Hals gesprungen.
Henti winkte Horimin zu und ging mit Ib auf dem Arm ihrer Schwester nach. Sie wollten auf den Hügel direkt beim Dorf, wo die Grabtempel der Familien standen. Sie wichen den Eseln der Wasserträger aus, die ihnen auf dem Weg zum Nordtor mit vollen Krügen entgegenkamen, und stiegen den sandigen Weg hinauf, bis sie zum Grabmal ihres Großvaters kamen.
Vor drei Monaten hatte er die Reise durch die Unterwelt angetreten und seit man seine Mumie vor drei Wochen feierlich in das Grabmal gebracht hatte, waren Henti und Sherit tatsächlich fast jeden Tag hier. Sie hatten ihren Großvater Neferhotep sehr geliebt. Er war vor ihrem Vater der Oberste Schreiber im Dorf gewesen und hatte ihnen die ersten Schriftzeichen beigebracht. Er hatte sie neugierig auf die Kunst des Schreibens gemacht, indem er ihnen aus seinen Papyrusrollen Märchen, Sagen und Abenteuer vorlas. Wie sehr sie das vermissten! Sein kostbarster Papyrus jedoch handelte von medizinischen Rezepten und Zaubersprüchen. Neferhotep hätte sich nie von ihm getrennt, denn sein eigener Großvater hatte die Texte selbst aufgeschrieben. Auch daraus hatte er Henti und Sherit vorlesen wollen, wenn sie erst älter geworden waren und die Texte verstehen konnten. Aber das war nun nicht mehr möglich, und wenn die Zwillinge daran dachten, wurden sie jedes Mal traurig.
Durch das Tor der Umfassungsmauer und über den Innenhof kamen sie zu dem kleinen Tempel mit dem pyramidenförmigen Dach.
"Weißt du noch", sagte Henti, "wie Großvater uns immer sein Grab gezeigt hat, als es noch gebaut wurde?"
"Ja sicher", antwortete Sherit. "Und ich weiß auch noch, wie stolz er darauf war."
Wie jeder Ägypter, der es sich leisten konnte, hatte Neferhotep schon zu Lebzeiten für sein Haus der Ewigkeit gesorgt. Glücklich hatte er seinen Enkelinnen die schönen Malereien erklärt, mit denen die Künstler des Dorfes ihrem Obersten Schreiber und Magier sein Haus des Ka geschmückt hatten. Alles, was in seinem Leben für ihn wichtig gewesen war, würde ihn in der Ewigkeit begleiten: seine Frau, die schon lange vor ihm gestorben war, seine Kinder, seine Enkel, sein Haus - alles war da. Er würde im Jenseits nichts vermissen.
Im Tempel knieten Henti und Sherit nieder. Sie legten die Feigen und das Brot in eine Opferschale und stellten den Krug Bier daneben. Es waren Gaben für Neferhoteps Ka. Er sollte im Jenseits keinen Hunger leiden. Dann hoben sie für ihr Gebet die Hände vor ihren Kopf. Feierlich sprachen sie den Namen ihres Großvaters aus: "Neferhotep, Schreiber und Magier am Platz der Wahrheit, möge deine Seele leben. Mögest du, Neferhotep, Millionen von Jahren verbringen mit Augen, die das Glück schauen."
Es war wichtig, den Namen des Großvaters auszusprechen. Henti und Sherit dachten immer daran. Der Ka des Großvaters konnte sich im Jenseits nur zurecht finden, wenn er seinen Namen nicht vergaß. Deshalb nannte seine Familie Neferhoteps Namen, wann immer sie an seinem Grabmal stand. So hatte Neferhotep selbst es bei seiner Frau und bei seinen eigenen Eltern und Großeltern getan.
Die Zwillinge verbeugten sich und verließen den Tempel. Dann setzten sie sich in den kühlen Schatten der Mauer. Flirrende Mittagshitze lag über ihrem Dorf in der Talmulde. Hier und da stiegen träge Rauchwölkchen durch die Mattendächer der Küchenhöfe und vermischten sich mit der dunstigen Luft.
Henti zeigte über den gegenüberliegenden Hügel. "Man kann noch nicht einmal den großen Tempel sehen, so heiß und dunstig ist es", stöhnte sie.
In der Ferne glitzerten die Bewässerungsgräben in den Feldern und dahinter floss der Nil, aber Waset, die Hauptstadt des Landes auf dem anderen Ufer, war im Dunst verschwunden.
"Hoffentlich ist es beim Fest nicht so dunstig!", sagte Sherit.
"Bloß nicht!" Henti schaute Sherit erschrocken an. "Sonst kann man doch die Barke Amuns nicht erkennen!"
Das Schöne Fest im Wüstental würde in sechs Tagen beginnen. Es war ein ganz besonderes Fest für die Lebenden und die Toten. Der Gott Amun verließ in seiner Barke sein Allerheiligstes im Großen Tempel von Waset und kam über den Nil, um die Totentempel der verstorbenen Pharaonen zu besuchen. Auch die Seelen der Toten würden dabei sein. Wie alle glaubten die Zwillinge fest daran, deshalb feierten die Dorfbewohner das Fest auch in den Höfen der Grabmäler.
Das Dorf, in dem sie wohnten, hieß Set Ma'at, Platz der Wahrheit. Es war nach Ma'at benannt, der Göttin der Wahrheit, die die Natur, die Zeit, die ganze Welt ordnete.
"Ma'at hat auch mit uns zu tun", hatte Neferhotep den Zwillingen einmal erklärt. "In unserem Dorf leben die besten Künstler des Landes. Wir bauen das Grab des Pharao und schmücken es aus. Auch dafür brauchen wir Ma'at, denn es ist auch Wahrheit und Ordnung in den Bildern an den Grabwänden. Alle haben eine Bedeutung. Stellt euch vor, wir würden einen Fehler machen und Pharao könnte deshalb nicht ins Jenseits einkehren! Ganz Ägypten würde darunter leiden!"
"Habt ihr schon Fehler gemacht?", hatte Sherit ängstlich gefragt. Sie war die Vorsichtigere von den beiden und machte sich leicht Sorgen über alles Mögliche.
Aber Neferhotep hatte sie beruhigt. "Seit ich zu alt dafür bin, ist euer Vater der Oberste Schreiber des Grabes am Platz der Wahrheit", hatte er lächelnd gesagt. "Solange er die Aufsicht über die königliche Baustelle hat, geschieht hier alles nach Ma'ats Ordnung. Das kannst du mir glauben."
Und seitdem waren Henti und Sherit stolz darauf, am Platz der Wahrheit zu leben und einen Vater zu haben, der Ma'at so gut diente.
Henti setzte sich auf und blickte sich suchend um.
"Ib", rief sie, "Komm sofort hierher. Die Feigen gehören Großvaters Ka und nicht dir."
Sie stand auf und ging in den Tempel zurück. Sie hatte richtig geraten. Da hockte das Äffchen vor der Opferschale und sah erschrocken zu ihr auf. In der Hand hielt es tatsächlich schon eine Feige.
"Leg sie sofort hin, Ib", schimpfte Henti. "Sonst heißt du ab jetzt Aun Ib. Gieriges Herz!"
Schnell ließ Ib die Feige wieder auf die Schale fallen, bleckte vor Verlegenheit die Zähne und sprang Henti keckernd auf die Schulter. Dann patschte er mit seinen kleinen Händen auf ihren kahlen Kopf, was Henti immer zum Lachen brachte. Sie setzte ihn auf den Boden und er hopste durch den Innenhof vor ihr her.
"Da kommt Merimose", rief Sherit, als Henti und Ib um die Mauerecke bogen.
"Wo?", fragte Henti und ließ sich wieder neben ihrer Schwester auf den schattigen Boden fallen.
"Da unten läuft er gerade an Horimin vorbei!" Sherit zeigte hinunter zum Nordtor.
"Wie kann man bei der Hitze nur laufen!", ächzte Henti.
 

© Illustrationen Volker Fredrich

 

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Christa Holtei (Text), Volker Fredrich (Illustration)
Der verschwundene Papyrus.
Ein Mitratekrimi aus dem Alten Ägypten.
München: dtv junior 2007. 3. Aufl. 2009.
160 Seiten, Euro 6,50, ab 10 Jahren.
ISBN 978-3-423-71262-0

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Bald auch auf Türkisch