|
Das erste Kapitel:
Besuch bei Oma An diesem Sommernachmittag verließen Marie und Luise die große Altbauwohnung in der Zietenstraße, dass es jeder hören konnte. Rums! Die Tür knallte zu. Marie schloss ab und steckte rasch den Schlüssel ein. Luise lief schon die Treppe herunter. „Beeil dich!“, rief sie. „Sonst verpassen wir die U-Bahn!“ Marie holte ihre Zwillingsschwester ein, als sie gerade um die Straßenecke bog, und dann rannten sie bis zur U-Bahn an der Kleverstraße. Zwischen den beiden Teilen des Golzheimer Friedhofs hindurch konnten sie in der Ferne den Rheinpark erkennen. „Eigentlich wären wir jetzt am Meer“, keuchte Luise beim Laufen. „Und da hinten ist bloß der Rhein.“ Die Eltern der beiden, Anne und Thomas Heller, besaßen ein Ingenieurbüro und hatten kurz vor den Sommerferien einen eiligen Auftrag bekommen, den sie einfach nicht ablehnen konnten. Und so hatte der Urlaub am Meer ausfallen müssen. „Ja, aber wenigstens hat Oma angerufen!“ Marie blinzelte ihrer Schwester zu. „Ich bin gespannt, was sie will.“ Die beiden mochten ihre Großmutter sehr, und das lag nicht nur daran, dass sie die gleichen Vornamen hatten wie sie. Marie-Luise Meier war groß und schlank, hatte immer gute Ideen und konnte unglaublich guten Kuchen backen. Als sie elf Jahre alt gewesen war, hatte Oma ausgesehen wie ihre Enkelinnen jetzt. Naja, vielleicht nicht genauso, aber fast. Auf dem alten Schwarzweißfoto hatten die Zwillinge kaum entscheiden können, ob das dünne Mädchen mit den Zöpfen und dem Kleid mit den Punkten nun hellbraune Haare hatte wie sie, oder vielleicht blonde. Außerdem hatten sie beide kurz geschnittenes Haar. Und sie würden niemals ihre Jeans mit einem Kleid tauschen. Wenigstens nicht freiwillig. Aber im Gesicht sah ihnen das Mädchen auf dem Foto tatsächlich ähnlich. „Seht euch Oma an und ihr wisst, wie ihr in fünfzig Jahren ausseht“, hatte Anne Heller zu ihren Töchtern gesagt. „Ihr seid in letzter Zeit in die Höhe geschossen wie die Spargel.“ Fünfzig Jahre! Das konnten sie sich gar nicht richtig vorstellen. Und das dauerte noch so lange! „Was hat Oma mit der Überraschung wohl gemeint?“, fragte Luise neugierig. Inzwischen saßen sie in der U-Bahn und fuhren Richtung Innenstadt, wo sie an der Heinrich-Heine-Allee umsteigen mussten. Oma wohnte in Oberkassel auf der anderen Rheinseite. Marie rutschte ungeduldig auf ihrem Platz herum. „Keine Ahnung. Sie hat ziemlich geheimnisvoll geklungen.“ Gespannt schaute Luise auf die Uhr. „Mit Umsteigen und Laufen noch zwanzig Minuten. Dann sind wir da.“ Marie seufzte. Manchmal verging die Zeit einfach zu langsam. Endlich bogen sie in die Wildenbruchstraße ein und kurz darauf standen sie vor Omas Haus. Es war eines der niedrigeren Oberkasseler Häuser mit Schnörkeln an der Fassade und einem kleinen Vorgarten. Es passte zu Oma. „Oh Mann!“, flüsterte Marie. „Meinst du, Julian ist auch da?“ Luise blickte ihre Schwester entsetzt an. Julian, der Nervtöter. Das war ihr Cousin, der Sohn von Onkel Markus und Tante Britta. Sie wohnten auch in Omas Haus. In der Wohnung im Erdgeschoss. Oder, wie Oma immer sagte: „Im Parterre. Das ist Französisch und heißt so viel wie ‚auf der Erde’. So nannte man das nämlich früher, als das Haus gebaut worden ist. Und das war vor über hundert Jahren.“ Oma erzählte dauernd solche Sachen. Es machte ihr einfach Spaß. Offenbar hatte man früher viele französische Wörter benutzt. Wenn man einmal um den Häuserblock spazieren wollte, ging man „ums Carré“ und wenn man im ersten Stock wohnte, dann war das die „Bel Etage“, die schöne Etage, weit weg vom meistens feuchten Keller und vom Straßenlärm. Seit Oma das erzählt hatte, sagte Julian nur noch mit hochgezogenen Augenbrauen „im Parterre“, wenn man ihn fragte, wo er wohnte. Der alte Angeber. „Die sind bestimmt in Urlaub“, antwortete Luise. „Onkel Markus hat doch gesagt, er braucht dringend eine Pause von der Tierarztpraxis.“ „Hoffentlich!“, stöhnte Marie. Vorsichtshalber schauten sie sich die Fenster im Erdgeschoss an, aber es war niemand zu sehen. Entschlossen drückte Luise auf die Klingel. Kurz darauf hörten sie Omas Stimme durch den Lautsprecher. „Seid ihr das schon? Das ging aber schnell! Kommt rauf!“ Die Zwillinge drückten die Tür auf und genossen die vertrauten Geräusche, die es nur bei Oma gab. Erst das leise Klicken der schwarzen und weißen Fliesen im Flur, kurz darauf das entrüstete Quietschen der Zwischentür mit dem bunten Glasfenster und dann das gemütliche Knarren der alten honigfarbenen Holztreppe. „Schön, dass ihr da seid, ihr Lieben!“, begrüßte Oma ihre Enkelinnen an der offenen Wohnungstür. Luise schnupperte in die Luft. „Hmmm! Hefekuchen!“ „Was ist das für eine Überraschung?“, platzte Marie sofort heraus. Oma lachte. „Das verrate ich euch später. Kommt erst mal rein!“ Marie und Luise rannten gleich zum Wohnzimmer. Wie immer hatte Oma im runden Erker den Kaffeetisch gedeckt und mitten auf dem Tisch stand ein Teller mit einem Berg Pflaumenkuchen. Aber statt direkt ins Zimmer zu stürzen, blieben die Zwillinge wie angewurzelt in der Tür stehen. Da saß Julian und kaute mit vollen Backen. Er war ein halbes Jahr älter und einen halben Kopf kleiner als seine Cousinen, hatte ein rundes Gesicht und eine etwas pummelige Figur. „Hi, Zwillinge der Finsternis!“, sagte er mit vollem Mund und hob lässig die Hand. Genervt sahen Marie und Luise sich an. Das ging ja schon gut los! Julian verschlang die Fälle der „Drei Fragezeichen“, und „Zwillinge der Finsternis“ hieß eines der Bücher. Seine Lieblingsfigur war Justus, der pummelige Erste Detektiv mit dem Superhirn. Typisch. Musste Julian jetzt hier sein und den Nachmittag bei Oma verderben? Sie blickten sich Hilfe suchend zu ihrer Großmutter um, aber die nickte ihnen nur zu. „Stellt euch vor, Julian fährt in den Ferien auch nicht weg. Gestern musste Alex mit Blinddarmentzündung ins Krankenhaus. Es geht ihm schon wieder ganz gut, aber mit dem Urlaub ist es natürlich vorbei. Und jetzt seid so lieb und vertragt euch. Ich bin gleich wieder da.“ Alex war Julians kleiner Bruder. Er tat den Zwillingen richtig leid. In den Sommerferien erst mal im Krankenhaus zu sein, machte bestimmt keinen Spaß. Sie sahen sich an und verdrehten die Augen. Und beschlossen stillschweigend, Julian auszuhalten. Oma zuliebe. Oma kam mit ihrer großen Blümchenkanne aus der Küche. Bei ihr gab es nur selbst gemachten Kakao, der einfach wunderbar schmeckte. „So, nun greift zu“, sagte Oma und goss den Kakao in bauchige Tassen. „Es darf nichts übrig bleiben“, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu. Das ließen sich die Zwillinge nicht zweimal sagen. Julian hatte ja schon einen Vorsprung, den mussten sie aufholen. „Was ist das denn nun für eine Überraschung, Oma?“, fragte Julian und nahm sich noch ein Stück Kuchen. Der Nervtöter hatte erstaunlicherweise genau die richtige Frage gestellt, fanden die Zwillinge. Gespannt sahen sie ihre Großmutter an. „Ich habe mal wieder auf dem Speicher gekramt“, fing Oma an. Das war eine viel versprechende Einleitung. Oma wohnte schon fast ihr ganzes Leben in diesem Haus. Vor über vierzig Jahren hatte sie den Tierarzt Albert Meier geheiratet. Anne und Markus, ihre Kinder, waren hier aufgewachsen. Und jetzt wohnte Markus mit seiner Familie immer noch hier und führte mit seinem Vater die Praxis weiter. Der Speicher war angefüllt mit Kisten und Kasten, alten Bildern und Möbeln und das Spannendste, was die Kinder kannten. Leider durften sie nicht allein dort oben herumstöbern. Aber wenn Oma auf dem Speicher kramte, fand sie immer irgendetwas, über das sie Geschichten erzählen konnte. „Und diesmal habe ich etwas ganz Besonderes gefunden“, fuhr Oma fort. Sie stand auf und holte eine Schachtel von ihrem Sekretär. Es war ein alter, zerbeulter Schuhkarton mit einem verblassten Elefanten auf dem Deckel, der einmal leuchtend rot gewesen sein musste. Unter dem Elefanten stand in großen blauen Druckbuchstaben:
Geheim! Nikolaus Freiherr von Knatter 1955
„Wer soll das denn sein?“, fragte Luise erstaunt und biss in ihr Stück Kuchen. Bevor Oma antworten konnte. sagte Julian wie aus der Pistole geschossen: „Nick Knatterton, der Meisterdetektiv, Beschützer der Verfolgten und Schrecken der Unterwelt.“ „Gut!“, lachte Oma. „Ich dachte mir, dass du das weißt.“ Die Zwillinge starrten ihren Cousin verblüfft an, aber Oma redete schon weiter. „Der Karton hat eurem Großonkel gehört, meinem Bruder Hans, der jetzt in Hamburg wohnt. Als er zwölf war, hat er seine Schätze hier drin gesammelt. Und er liebte die Nick-Knatterton-Comics, die es damals jede Woche in einer Zeitschrift gab.“ Oma öffnete die Schachtel. Gespannt reckten ihre Enkel die Hälse. Zuallererst kam eine graue Schlägermütze mit Schirm zum Vorschein und eine weiße Tonpfeife, die einmal einem gebackenen Martinsmann gehört haben musste. Julian nahm die Mütze und betrachtete sie von allen Seiten. „Hat er die wirklich angezogen?“, fragte er. „Im Sommer 1955“, antwortete Oma und tippte auf die Jahreszahl auf der Schachtel, „hat er sie fast dauernd getragen. Sie war zwar nicht grün wie die von Nick Knatterton, aber immerhin. Und er hat den ganzen Haushalt wild gemacht, bis wir noch in einer Schublade diese weiße Tonpfeife von Sankt Martin gefunden haben. Er wollte genauso aussehen wie der Detektiv mit der Mütze auf dem Kopf und der Pfeife im Mund. Und bei jeder Gelegenheit sagte er: ‚Kombiniere ...’, wie in den Comics.“ Marie und Luise fingen an zu lachen, als sie sich ihren Großonkel vorstellten. Heute war er groß und breit, hatte nur noch wenige Haare auf dem Kopf und meistens ein vergnügtes Zwinkern in den Augen. „Ja, man kann es kaum glauben“, schmunzelte Oma. „Aber so war es.“ „Er war ja wie du, Julian“, rief Marie. „Du tust ja auch immer so, als wärst du Justus mit dem Superhirn.“ Julian warf ihr einen wütenden Blick zu und bekam rote Ohren. „Wer weiß, wozu das gut ist“, besänftigte Oma ihre Enkel. „Ich habe mir nämlich gedacht, wenn ihr schon nicht wegfahrt, würde euch vielleicht das Tagebuch eures Großonkels interessieren. Für eine kleine Zeitreise ...“
Ein wenig aus dem Tagebuch, das auch noch im Karton ist: (Übrigens: “Malu” ist Oma Marie-Luise, damals 10 Jahre alt.)
Freitag, 15.7.1955 Ausräumen von Omas Zimmer verschoben. Es ist erwiesen, daß das Bild verschwunden ist. Polizei verständigt. Eigene Ermittlungen im Fall Bilderdieb aufgenommen. Kombiniere: Jemand hat Omas Clarenbach-Bild gestohlen.
Ich habe beschlossen, daß ich auch alles in mein Tagebuch schreibe, was im Fall Bilderdieb passiert. Ein guter Detektiv macht sich Notizen, jeder Hinweis zählt. Am Ende kann ich mich nicht mehr erinnern, was los war, und es wäre vielleicht wichtig gewesen. Morgen nach der Schule haben Malu und ich genug Zeit, uns zu überlegen, wer der Täter sein könnte. Wir bleiben nämlich lange auf. Wir gehen zum Straßenbahnfest. Um 23.22 Uhr fährt die letzte 10 über die Kö, und das wird gefeiert. Ab Sonntag fährt die Bahn über die neue Parallelstraße. Sie sollte erst Wilhelmstraße heißen, aber jetzt heißt sie Berliner Allee. Viele mögen die Straße nicht sehr, weil Häuser abgerissen werden mußten, die schon wieder aufgebaut waren. Außerdem sieht die Straße scheußlich aus. Schlamm, Ruinen und ein paar neue Häuser. „Eine zweispurige Straße!“, hat die alte Frau Arndt von nebenan neulich zu Mutti gesagt. „Und in beide Richtungen. Wer braucht denn eine Autobahn mitten in der Stadt, können Sie mir das mal sagen? Viel zu gefährlich! Die sollten lieber neue Wohnhäuser bauen, die brauchen wir dringender.“ Mutti und sie haben die Köpfe geschüttelt. Das Beste an der neuen Straße ist der Europa Palast Ecke Graf-Adolf-Straße. Da machen sie Reklame für einen neuen Film ab August, „Die Mädels vom Immenhof“. Malu ist schon ganz wild drauf, aber sie ist ja auch ein Mädchen. Ich finde „Susi und Strolch“ besser, das läuft da jetzt. Ich war schon zweimal drin. Oder die Mickymaus-Filme im Ali im Bahnhof, die finde ich klasse. Und Nick Knatterton natürlich. Also ich mache auch mal Comics oder Zeichentrickfilme. Oder ich werde Detektiv.
|