Mit Gänsekiel und Federmesser

 

[ Inhalt des Bandes ]

Zwanzig Jahrhunderte sind seit beginn unserer Zeitrechnung vergangen, Jahrhunderte, die von den positiven, aber auch negativen Ergebnissen menschlichen Denkens und Handelns geprägt waren, von Unrecht, Kampf und Unterdrückung. Dass es den Mächtigen dieser Erde zu allen Zeiten um Machterhalt, Ruhm und Reichtum ging, den so genannten kleinen Leuten vor allem um Überleben, Freiheit und Selbstbestimmung, spiegeln die Geschichten namhafter Jugendbuchautorinnen und -autoren wider. Dabei spannt sich ein Bogen vom alten Judäa des ersten nachchristlichen Jahrhunderts bis in die Gegen-
wart und Zukunft.
Einundzwanzig Geschichten von Gestern und Morgen: von dem, was war, und von dem, was sein wird. Für alle, die mehr wissen wollen, als in den Geschichtsbüchern erzählt wird.

Durch zwanzig und ein Jahrhundert mit:
Carmen Blazejewski - Adelheid Dahimène - Martina Dierks
 Zoran Drvenkar - Susanne Ellensohn - Karen-Susan Fessel
Christa Holtei - Josef Holub - Dirk Lornsen - Paul Maar
Doris Meißner-Johannknecht - Bettina Olbrecht - Harald
Parigger - Mirjam Pressler - Margret Rettich - Nina Schindler
Thomas Schmid - Karla Schneider - Anita Siegfried
 Gregor Tessnow - Arnulf Zitelmann
 

[ Leseprobe ]


Mit Gänsekiel und Federmesser
Die Geschichte erzählt von dem elfjährigen Immo. Er lebt im 9. Jahrhundert und gehört zu den wenigen, die im Kloster Fulda Lesen und Schreiben lernen. Es war etwas Besonderes, denn damals konnte das noch lange nicht jeder!

Immo saß auf einem niedrigen Holzschemel und hielt den hölzernen Rahmen seiner Wachstafel auf den Knien fest. Seine Zungenspitze hatte er zwischen die Lippen geklemmt und auf seiner Stirn war eine steile Falte. Immo strengte sich sehr an. Er war dabei, eine ganze Reihe mit dem Buchstaben "a" auf seine Wachstafel zu ritzen. Das ging schon ganz gut. Es war nicht einfach, aber er merkte, dass der Griffel ihm besser gehorchte als noch vor einem Monat.
Es war tatsächlich erst fast vier Wochen her, dass sein Leben sich schlagartig verändert hatte. Nach dem Osterfest war er mit seinem Vater zum Kloster Fulda geritten und durfte nun als Schüler am Unterricht teilnehmen. Das war etwas Besonderes. Alles war hier so anders als zu Hause auf dem Gut der Eltern. Allein die Abteikirche, die Ratgar-Basilika, hatte so riesige Ausmaße, dass ihm fast schwindelig davon wurde. Er hatte gar nicht gewusst, dass es überhaupt so große Gebäude aus Stein geben konnte. Über sechshundert Mönche waren in Fulda und das waren mehr Menschen, als er jemals zuvor an einem Ort gesehen hatte.
Immo besah sich das letzte "a", das er gemalt hatte. Nein, das war schief. Er drehte den Griffel um und glättete das "a" mit der flachen Seite wieder aus dem weichen Wachs. ...

[ Mach mit ]

Im Jahr 830 geht Immo im Kloster Fulda zur Schule. Klöster waren zu jener Zeit Bildungszentren und so besaß nahezu jedes Kloster eine Schreibstube, ein Skriptrium, in dem Mönche wertvolle Manuskripte für die Wissenschaft herstellten. Das Kloster Fulda gehörte damals zu den berühmtesten, denn Abt Hrabanus legte großen Wert auf seine Bibliothek.
Dieses Bild ist die Grundlage für die Immo-Geschichte:

Der Schreiber Hildebertus sitzt an seinem Schreibpult, in dem zwei Rinderhörner für rote und schwarze Tinte und zwei Gänsefedern zum Schreiben stecken. Aber er kann sich nicht auf sein Manuskript konzentrieren, denn er muss etwas nach einer Maus werfen, die auf dem Tisch den Käse anknabbert.
Auf einem Schemel vor Hildebertus sitzt der Junge Everwinus und malt Zierranken auf ein Blatt Pergament. So hat auch Immo in der Geschichte gesessen und die Reihe “a” auf seine Wachstafel geritzt.
Der mittelalterliche Schreiber hat es sich nicht nehmen lassen, diese Szene zu kommentieren. Im Manuskript auf dem Pult kann man lesen: “Pessime mus, sepius me provocas ad iram, ut te deus perdat!” Und das heißt: “Verdammte Maus, schon oft hast du mich in Wut versetzt, dass Gott dich verderbe!”
 

© Illustration Jens Rassmus

 

Rak, Alexandra (Hg.), Jens Rassmus (Vignetten):
Von Gestern und Morgen. Mit 21 Autoren durch zwanzig und ein Jahrhundert.
Hamburg: Oetinger 2000.
295 S. DM 29,80, ab 11 Jahre
ISBN 3-7891-4607-2